Magazin #1: Sechs Mal Abenteuer – Die Sicht aus dem Cockpit
Festivalleiterin Nina Hümpel im Gespräch mit Arnd Wesemann
Als Dieter Buroch als Gründer des Mousonturms und Du als Gründerin von tanznetz 2012 das Festival DANCE übernommen habt, gab es ein Kochbuch mit Lieblingsrezepten der am Festival beteiligten Macher*innen und Künstler*innen. Wie kulinarisch wolltet Ihr Tanz vermitteln?
Warum Tanz nicht kulinarisch präsentieren? Mit der Idee des Kochbuchs haben wir bei unserem ersten Festival etwas gemacht, was dem Namen nach damals so noch gar nicht verbreitet war: Vermittlung. Das Publikum konnte zudem junge Tanzwissenschaftler*innen buchen und mit ihnen über die Produktionen reden, Fragen stellen, ohne das Gefühl zu haben, man wisse nicht genug über zeitgenössischen Tanz. Das ging besonders gut beim Essen, denn wir haben nicht nur ein Kochbuch gemacht, sondern unser Festivalzentrum, das Restaurant im Müller'schen Volksbad, hat all diese Gerichte nachgekocht. Da konnte man wirklich Blaubeerquark à la Marie Chouinard bestellen. Oder Kartoffelsuppe nach Hans-Georg Küppers, das Rezept unseres damaligen Kulturreferenten. Oder Büro-Gnocchi à la Nina Hümpel.
Warum habt Ihr das nicht weiterverfolgt?
Das haben wir, mit immer neuen Ideen, z. B. mit Rent an Expert, mit tanzpolitischen Themen, einer Tanzreihe für männliche Jugendliche 2012 – als Gender Mainstreaming nur andersherum – oder in den letzten Jahren z. B mit der DANCE History Tour. Aber auch mit der damals begonnenen Gastfreundschaft: Jede Kompanie wird eingeladen zu einem ganz feinen Essen, auch, um andere Kompanien kennenzulernen, um sich beim Essen auszutauschen, mit dem Team des Festivals, auch mit dem Publikum. Diese Tradition haben wir beibehalten.
Gegründet wurde das Festival von Bettina Wagner 1987. Sie war durch ihren Mann Martin Bergelt auch weiterhin, bis 1995, mit dem Festival eng verbunden und nahm das Ruder 2008 erneut in die Hand. Wie schwer war es, das Erbe der damaligen Chefdramaturgin des Bayerischen Staatsballetts anzutreten?
Nicht einfach. Auch deshalb, weil wir erstmals im Team als eine Doppelspitze angetreten sind, Dieter Buroch und ich. Wir wollten viele Dinge anders machen, stärker eingreifen in die Festivalplanung, uns als eine künstlerische Leitung begreifen. Das war mehr, als von uns erwartet wurde. Wir wollten Zugriff haben auf das Budget, die Organisation, die Werbung. Wir versuchten uns von Teilen der gewachsenen Strukturen zu befreien. Was nicht immer sofort geklappt hat.
Du selbst hast das Festival seit der Ära Hortensia Völckers und Martin Bergelt verfolgt, damals schon als Studentin, dann als Dozentin, bevor Du 1996 das Portal tanznetz gegründet hast. Wie hast Du die thematischen Linien des Festivals damals erlebt?
Es war alles immer sehr neu, sehr nah am Puls der Zeit. Es ging um gesellschaftliche Themen oder um bestimmte Länder wie Israel oder Kanada. Ich habe das als sehr bereichernd empfunden, alle zwei Jahre zu einem Festival zu gehen, das jedes Mal ein Höhepunkt in meiner Seherfahrung wurde.
Daran hatte sich so viel nicht geändert, als DANCE 2012 mit dem Thema Flandern begann. Bloß nichts verändern?
Tatsächlich haben wir viel geändert. Und beim Thema Flandern ging es ja nicht nur um das Zeigen möglichst vieler Produktionen. Wir führten auch einen kulturpolitischen und in Kooperation mit der LMU wissenschaftlichen Diskurs. Wir fragten: Was können wir von den Flamen lernen? In Belgien gibt es eine fantastische freie Szene mit eigenem Management wie bei Les Ballets C. de la B. von Alain Platel und einen Riesenpool an kreativen Choreograf*innen und Tänzer*innen. Das gab es in Deutschland alles nicht. Es ging nicht darum, blind irgendwelche Länder zu porträtieren, auch wenn nicht zu leugnen ist: Es gibt ganz bestimmte Regionen, die tänzerisch ungemein stark sind: Kanada, Flandern und Israel sind nur die Spitze.
DANCE war vor allem auch schon vor Eurer Kuration das Festival der damaligen Big Names: Meg Stuart, Saburo Teshigawara, Jan Fabre, Susanne Linke… Gibt es sie in diesem Sinne heute noch: die Avantgarde im Tanz?
Gute Frage. All die genannten Big Names gehören in eine bestimmte Generation, sie sind in einer bestimmten Zeit groß geworden. In meiner Ära waren es dann auch Lia Rodrigues, William Forsythe, Marie Chouinard, Sidi Larbi Cherkaoui, Anne Teresa de Keersmaeker, Sharon Eyal, Emanuel Gat oder auch aktuellere Namen wie Trajal Harrell oder Giselle Vienne. Aber es gibt eine neue Generation – in der kommenden Ausgabe von DANCE etwa aus Litauen – aufstrebende Künstler*innen in ihren frühen Zwanzigern. Sie brauchen noch Zeit, um einen Big Name zu erwerben. Damals sehr junge Choreografin*innen wie Yang Zhen oder Daina Ashbee hatten ihren Erstauftritt in Europa bei DANCE vor einigen Jahren und sie sind heute schon recht große Namen in der weltweiten Tanzszene.
Wie war es – nach 16 Jahren journalistischer Arbeit bei tanznetz und dafür vom Deutschen Tanzpreis geehrt –, 2012 selber die Macherin eines Festivals zu sein?
Es war ungemein bereichernd, weil ich nicht wusste, wie so ein Betrieb von innen läuft. Ich hatte mit Dieter Buroch einen super erfahrenen Veranstalter an der Seite. Er wusste alles über Bühnentechnik, Sitzpläne, Ticketpreise. Ich sprang da rein als Quereinsteigerin mit dem Knowhow, das ich hatte, konnte mit Kompanien kommunizieren und Konzepte erstellen. Heute bin ich froh, etwas für mich Neues gemacht zu haben und den Tanz auch von der anderen Seite her betrachten zu dürfen. Auf der Festivalseite ist alles viel leidenschaftlicher, aber auch empfindlicher. Man steht auf der Seite derer, die machen, proben, sich wie nackt auf der Bühne präsentieren und dann Kritik erfahren. Auf einmal ist die Kritik dann gar nicht harmlos.
Die gemeinsame Leitung mit Dieter Buroch war recht kurz, er wurde nach dem Festival 2012 künstlerischer Berater. Gab es einen Moment, an dem er sagte: Jetzt mach mal alleine, das schaffst Du locker ohne mich?
Das war direkt nach dem ersten gemeinsamen Festival. Wir hatten beide viel Gegenwind erlebt. Noch am letzten Tag des Festivals sagte er mir: „Ich bin raus.“ Wir kämpften mit Forderungen an die Organisationsstruktur. Einige Vertreter*innen der Presse hatten sich offenbar eine andere Leitung vorgestellt. Dazu kamen die Mitarbeitenden, die erwarteten, dass vieles so weitergeht wie bisher. Es gab Probleme an vielen Fronten. Damals. Nur das Kulturreferat stand zu 100% hinter Buroch und mir. Herr Küppers hätte sich gewünscht, dass wir beide zusammen weitermachen. Was in gewisser Weise ja auch passiert ist, nur in einer ganz anderen Gewichtung als zuvor.
2000 kam mit Micha Purucker erstmals überhaupt ein Münchner Künstler bei DANCE vor. 2008 durften dann auch mal das Theater am Gärtnerplatz und das Bayerische Staatsballett dabei sein. Schon in Deiner ersten Spielzeit bekam die Münchener Szene einen festen Platz. Warum?
Ich bin stolz darauf, in jeder Festivalausgabe mindestens eine*n Münchner Choreograf*in zu zeigen. Ich bin der Meinung, dass München auch im internationalen Kontext präsent sein kann – nicht nur in einem Rahmenprogramm, sondern in der gleichen repräsentativen Position wie die internationalen Kompanien. So wie jetzt die Uraufführung von Moritz Ostruschnjak das Festival eröffnet. Er stammt aus München. Ich zähle auch Richard Siegal dazu, der sich hier einen Namen gemacht hat und nun in einer Kooperation mit Köln immer wieder bei DANCE dabei ist.
Es gibt die Übertragung von Karl Alfred Schreiners Reihe Minutemade vom Gärtnerplatztheater auf DANCE und es gibt die Fortsetzung der engen Bindung zu Brygida Ochaim, die von Anbeginn das Filmprogramm des Festivals kuratierte. Seit 2019 bietet sie zusammen mit Thomas Betz die DANCE History Tour an. Wer wollte denn, dass das Festival immer lokaler wird?
Qualität spielt hier die entscheidende Rolle. Die Stadt erinnert sich, wie sehr sie einmal selbst das Tanzzentrum des Zeitgenössischen gewesen ist. Dazu ist sensationell recherchiert worden. Die freie Tanzkunst heute hat wirklich zu großen Teilen in München ihren Anfang genommen, im Künstlerhaus und im Odeon. Ich denke etwa an Alexander Sacharow und Clothilde von Derp, die hier um 1910 mit bildenden Künstler*innen zusammenarbeiteten oder an Madeleine G., die 1904 in den heutigen Münchner Kammerspielen Hypnosetänze tanzte. In München wurde damals an vielen Orten wild experimentiert. Das zeigen wir jetzt in unterschiedlichsten Formaten.
Welche Rolle spielt Katja Schneider, auch eine Münchnerin?
Katja Schneider ist die langjährige Dramaturgin des Festivals, nur in dieser Position aktuell nicht mehr ganz so stark engagiert wie in der Anfangszeit, da sie jetzt Professorin für Tanz in Frankfurt ist. Sie ist vor allen Dingen verantwortlich für die Symposien mit hochkarätigen Wissenschaftler*innen und Künstler*innen, 2021 etwa zum Thema Aktivismus im Tanz, zusammen mit Sigrid Gareis, Gabriele Brandstetter und anderen tollen Referent*innen.
Aktionen im Park und in der Stadt sind auch so eine Erfindung dieser jüngeren Zeit: War das eine Vorahnung auf 2021 – das Coronajahr von DANCE?
Ganz ehrlich: gar nicht. Gerade die Aktionen von Ceren Oran und der Tanzmarathon von Stefan Dreher, die beide über das gesamte Festival hinweg jeden Tag über Stunden stattfanden, gehorchten eher der Frage: Wie kriegen wir viele Menschen dazu, sich für zeitgenössischen Tanz zu interessieren? Wie kriegen wir Leute, die vorbeilaufen und bisher noch nie damit in Berührung waren, dazu, stehenzubleiben, zuzugucken, vielleicht auch mitzutanzen oder nachzufragen, was das eigentlich ist: zeitgenössischer Tanz? Dazu gehörte auch das Box Tape von Peter Trosztmer, der eine Klebeband-Konstruktion über elf Tage immer größer werden ließ, gewebt wie von einer großen Spinne, in die man hineingehen und hineinklettern konnte. Das hat Familien mit Kindern, Jugendliche, mit und ohne Migrationshintergrund, die unterschiedlichsten Leute zusammengebracht, die sich kennengelernt und ausgetauscht haben und vielleicht auch abends in eine Veranstaltung gegangen sind.
Andere Festivals sagten im Lockdown alles ab oder verschoben es, aber DANCE hatte es 2021 gewagt, trotz Coronaauflagen stattzufinden. Was war der schlimmste Moment, und welcher der glücklichste, dass dies dann doch gelang?
Der schlimmste Moment war, glaube ich, als wir erfuhren, dass es in Bayern zur sogenannten Corona-Notbremse kam. Erst hieß es, man dürfe noch in den öffentlichen Raum, dann hieß es: Gar nichts geht. Nicht mal eine Tänzerin an der frischen Luft auf einer Brücke mit Maske war erlaubt, auch kein Kontakt mit einer zweiten Person, die ebenfalls Maske trägt. Dieser Moment, als die Jody Oberfelder Kompaniemitglieder aus New York quasi mit ihrem Koffer am Flughafen standen und wir sagen mussten: Bitte bleibt zu Hause – das war der unangenehmste und traurigste Moment. Und natürlich der Verlust von Colleen Scott und Raimund Hoghe, die bei DANCE dabei waren und während des Festivalzeitraums verstarben.
Zu den glücklichsten Momenten, würde ich sagen, gehörte die Erkenntnis, wie schön die digitalen Formate funktioniert haben, wie unterhaltsam die Einspielungen sind, wie gut sich Publikumsfragen unterbringen lassen, sogar, wie prima eine Liveübertragung aus einem Theater wie in Brügge funktioniert, als Jan Martens für uns dort seine Uraufführung Any Attempt will End in Crushed Bodies and Shattered Bones gezeigt hat. Diese Produktion ist danach richtig abgegangen, hat diverse Preise und Gastspieleinladungen erhalten. Dasselbe gilt für Richard Siegel, der seine Arbeit Two for the Show explizit fürs Internet produziert hatte.
Klingt, als könnte man Festivals viel öfter virtuell veranstalten.
Dachte ich auch und habe sogar auf einem Podium behauptet, dass wir die digitalen Formate beibehalten werden, Streams, die man überregional am Computer verfolgen kann. Ich muss gestehen, dass ich das nicht weiterverfolgt habe, weil alle so glücklich sind, wieder live zu tanzen. Tanz ist ja eine der wenigen Veranstaltungsarten, die wieder richtig gut besucht werden. Und diese Energie will ich natürlich mitnehmen.
Gab es in den vergangenen zwölf Jahren ein persönliches Highlight?
Für mich war es die Einladung einer ganz jungen, noch studentischen Kompanie aus Peking. Der Choreograf Yang Zhen war 24 Jahre alt, die Tänzer*innen zwischen 19 und 21. Es war die Produktion Just Go Forward. Niemand sprach Englisch oder Deutsch. Sie hatten kein Management, null Technik und null Erfahrung. Wir mussten mit relativ viel Geld und wahnsinnigem Aufwand ran, hatten Visaprobleme, übersetzten bis in die Nacht und versuchten auf Proben noch Dinge, die einem westlichen Publikum nicht zu vermitteln sind, zu kontextualisieren. Aber ich bin sehr stolz, denn nach zwei darauffolgenden Koproduktionen bei uns hat die Kompanie um Yang Zhen nun einen internationalen Agenten und macht Weltkarriere. Eine der Tänzerinnen, Gao Tian, machte ihren Master in Tanz an der Folkwang Hochschule, ging zu Sasha Waltz und ist inzwischen selbst Choreografin. Will sagen, dass mir die schlimmsten Festivalmomente im Nachhinein als die glücklichsten erscheinen, wenn man sieht, wie das scheinbar Unmögliche, sei es Corona oder ein Gastspiel aus China, einen Fortschritt überhaupt erst möglich macht.