Magazin #7: Eine lebendige Erinnerung
An Evening with Raimund erinnert an Raimund Hoghes choreografisches Werk, an Geschichten, Menschen, Gefühle und die Kraft der Musik
von Katja Schneider
Die Aufführungen holen wir nach, sagten wir vor zwei Jahren, als DANCE 2021 coronabedingt die Präsentation von Raimund Hoghes Stück Canzone per Ornella für die italienische Primaballerina Ornella Balestra canceln musste. Stattdessen verabredeten wir, zwei Filmabende mit Ausschnitten aus seinem Werk zu zeigen, flankiert von Live-Gesprächen. Als Hoghe dann seine Reise von Düsseldorf nach München krankheitsbedingt kurzfristig absagen musste, sagten wir uns am Telefon: Die Gespräche holen wir nach. Leider ist es dazu nicht mehr gekommen. Raimund Hoghe verstarb am 14. Mai 2021. Ein Wiedersehen, eine erneute Begegnung mit ihm gibt es dennoch. An Evening with Raimund erinnert an Hoghes choreografisches Werk, an Geschichten, Menschen, Gefühle und die Kraft der Musik – an das, was er seinem Publikum vermittelte.
Bereits einen Monat nach Hoghes Tod und ohne Probentage wurde eine erste Version in der Ménagerie de verre in Paris gezeigt, wo er künstlerisch zu Hause gewesen und mit der künstlerischen Leiterin Marie-Thérèse Allier über Jahre verbunden war. Die Performance stellten die langjährigen Mitarbeiter Luca Giacomo Schulte und Emmanuel Eggermont mit den Tänzer*innen zusammen. Es wurde eine mit Hingabe getanzte Hommage. Sie beinhaltete, wie sich später herausstellen sollte, ein Versprechen auf die Zukunft, auf Weitermachen, Weiterleben. „Wenn keiner singt, ist es still“, lässt Rainer Werner Fassbinder seine Figur Roma B. im Stück Die Stadt, der Müll und der Tod sagen; Hoghe mochte diesen Satz. Er zitierte ihn in seinen journalistischen Texten, wählte ihn als Titel für seine letzte Publikation, die er herausgab; der Satz stand auch auf seiner Todesanzeige. Die Stille, die im Zuge der Hygiene- und Abstandsregeln der Covid-19-Pandemie durchgesetzt und kollektiv erfahren wurde, hatte ihm sehr zugesetzt, denn er war gerne mit Menschen zusammen. Auch daran erinnert An Evening with Raimund.
Der Abend in Paris lief so gut, dass der Choreograf und Tänzer Emmanuel Eggermont und Hoghes langjähriger künstlerischer Mitarbeiter Luca Giacomo Schulte die Hommage zum tourfähigen Stück ausbauten. Eine zweite Fassung der Hommage wurde im Oktober 2021 beim Festival d’Automne in Paris und im März 2022 im Teatro Municipal in Porto gezeigt. Im Mai desselben Jahres erhielt das Team endlich die Gelegenheit, in Düsseldorf intensiv zu proben, das Stück erneut zu überarbeiten und im tanzhaus nrw sowie im Theater im Pumpenhaus in Münster aufzuführen. Mit dieser Version reisten sie auch zu Montpellier Danse, zum La Bâtie-Festival nach Genf und zum Festival Queer Zagreb.
An Evening with Raimund entstand aus dem Wunsch, eine lebendige Erinnerung zu schaffen, gemeinsam eines großen Künstlers – Hoghe wurde ein halbes Jahr vor seinem Tod mit dem Deutschen Tanzpreis 2020 geehrt – zu gedenken. Dieser Impuls setzte sich fort und verband sich für die Gruppe um den Choreografen mit Überlegungen zu dem, was Hoghe geschaffen hat und der eigenen Beteiligung daran. In enger Zusammenarbeit und wechselnder Besetzung kreierten sie eine Welt voller Schönheit und Poesie, die sich stets mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen auseinandersetzte. Wie geht man mit diesem künstlerischen Erbe um? Der materielle Niederschlag von Fotos, Texten, Büchern, Zeitungsausschnitten, Kritiken, Briefen, Verträgen, den Spuren seiner Arbeit, die sich auf Regalbrettern und in Schränken, in Kisten und Boxen, auf dem Schreibtisch und in Kellerräumen ausbreitete, hatte seine eigene Ordnung. Was passiert mit ihr? Die Choreografien leben in den Körper der Tänzer*innen weiter; wie kann man sie aufführen, wenn Hoghes von der gängigen Norm abweichender Körper eine Leerstelle bleibt? Er, der mit seiner spezifischen Gestalt und seinen Aktionen oft alleine die Größe des Raums füllte, der sich in ein spannungsreiches Verhältnis zu seinen Partner*innen setzte, und immer den Kontrast inszenierte – zur einnehmenden Musik und zu den als attraktiv gelesenen Körpern um ihn herum. Wie macht man weiter, wenn einer so fehlt? Und doch weiterwirkt. Anfragen mit Projektvorschlägen treffen ein, Einladungen zu Gastspielen. Hier geht es nicht zuletzt um den Umgang mit choreografischem Erbe, um die Auseinandersetzung mit der Rolle aktiver Zeitzeugenschaft, um kreative Prozesse, die neu entstehen aus dem, was geblieben ist.
Je nach Verfügbarkeit der internationalen Tänzer*innen, die auch zu Hoghes Lebzeiten aus Italien, Frankreich, Belgien, Irland und Schweden, aus Korea, Japan und Kanada anreisten, um zu proben, variieren die Ausschnitte, die Emmanuel Eggermont zu einer neuen Textur verwebt. Szenen überlagern sich, sie verbinden sich auf bislang ungesehene Art und Weise. Die Tänzer*innen – Ornella Balestra, Marion Ballester, Astrid Bas, Ji Hye Chung, Finola Cronin, Adrien Dantou, Lorenzo De Brabandere, Emmanuel Eggermont, Kerstin Pohle, Luca Giacomo Schulte, Yutaka Takei, Takashi Ueno und Guy Vandromme – machen den Verlust deutlich, ohne ihn auszustellen. Hoghes Position, seine Aktionen werden von allen wie beiläufig übernommen – es funktioniert tatsächlich.
An Evening with Raimund versteht sich nicht als „Best of” aus Hoghes Stücken, hier wird nichts nachgespielt. Indem die Tänzer*innen ihre gewohnten Passagen mit neuen Anteilen und Konstellationen korrespondieren lassen, entstehen auf diese Weise neue Kontexte, die sich auch Besucher*innen erschließen, die noch nie etwas von Hoghe gesehen haben.
An Evening with Raimund beginnt mit dem Trauermarsch aus seinem Stück Si je meurs, laissez le balcon ouvert (2010). Die zum Titel gewordene Gedichtzeile von Federico Garcia Lorca lässt sich hier als Einladung, verstehen, als Aufforderung, die Tür nicht zu schließen, Licht und Luft, das Leben, hereinzulassen. In Hoghes Produktion Young People, Old Voice (2002) singt Peggy Lee:
“Don’t cry, there’ll be another spring
I know our hearts will dance again
And sing again, so wait for me till then…”
Emmanuel Eggermont versteht An Evening with Raimund als erste Geste der engsten Mitarbeiter*innen Hoghes in Richtung auf diesen „anderen Frühling hin, in dem unsere Herzen wieder tanzen werden“…
Eine Ausstellung mit Fotografien von Rosa Frank, die Raimund Hoghe von Beginn seiner Karriere an begleitete, und ein Gespräch mit ihr über die Arbeitsweise von Raimund Hoghe, Luca Giacomo Schulte und Emmanuel Eggermont werden das Gastspiel begleiten.