Magazin #5: Perspektivenwechsel
Tanz in Montreal – Dreh- und Angelpunkt für kraftvolle Erfindungen
von Philip Szporer
Montreal zählt zu den größten französischsprachigen Städten der Welt, ist für seinen kosmopolitischen Charakter weithin bekannt und eine Stadt, in der sich Kreativität ungehindert entfalten kann. Die langjährige Tradition von Tanz in New York, Paris, London und Berlin könnte Montreal rein historisch gesehen in den Schatten stellen. Doch der sich immer weiterentwickelnde Ruf und Status, den Montreal hier hat – er beruht auf künstlerischer Erneuerung, sich stetig wandelnden kulturellen Identitäten und einer starken sozialen Dynamik –macht die Stadt zum Dreh- und Angelpunkt künstlerischer Schaffenskraft. Aus diesem und vielen anderen Gründen zieht Montreals Kulturleben Künstler*innen geradezu magisch an.
Die Wurzeln des Tanzes in der kanadischen Provinz Quebec sind ebenso mannigfaltig wie tief und gehen auf renommierte Künstler*innen wie Jeanne Renaud und Françoise Sullivan zurück. Beide haben in ihrer langjährigen Karriere neue Wege beschritten. (Françoise Sullivan, Jahrgang 1923, feiert diesen Herbst mit einer Ausstellung neuer Werke am Montreal Museum of Fine Arts ihren 100. Geburtstag.) Ebenfalls Pionierarbeit geleistet haben andere, weniger bekannte Personen, die die Tanzgeschichte der Stadt mitgeprägt haben. So z.B. die außerordentlich beliebte Elsie Salomons, Lehrerin für progressiven modernen Tanz und Choreografin. Oder Ethel Bruneau, mittlerweile über 80, doch immer noch als Stepptänzerin aktiv und zudem eine brillante Pädagogin. Dies sind nur zwei Beispiele für Künstlerinnen, die ganz im Stillen Generationen professioneller und zukünftiger Künstler*innen inspiriert haben. Seit etwa 1980 haben inQuebec ansässige Choreograf*innen eine konzentrierte, hochgradig kreative Tanzsprache entwickelt, die das Publikum immer wieder fasziniert. Seit Anfang/Mitte der 1980er Jahre gilt Montreal als Kreativ-Zentrum für zeitgenössischen Tanz. In den ersten Jahren machten sich hier so verschiedene Künstler*innen wie Margie Gillis, Édouard Lock, Marie Chouinard, Daniel Léveillé, Ginette Laurin, Paul-André Fortier und Jean-Pierre Perreault einen Namen. Große etablierte Ensembles wie Les Grands Ballets Canadiens und Les Ballets Jazz de Montréal spielten eine wichtige Rolle im Kulturleben der Stadt. Zudem bildeten sich diverse kulturelle Foren heraus, die dem Publikum in Montreal ein Fenster zur Tanz-Welt eröffneten: vom Festival International de Nouvelle Danse (FIND) über zeitgenössische Veranstaltungen wie dem Festival Transamériques und Danse Danse bis hin zu regelmäßig stattfindenden Programmen und Events wie z.B. Montréal, arts interculturels (Mai), Agora de la danse, Usine C und Studio 303.
Dieses tragende kulturelle Erbe befreite den Tanz mit ausgeprägter Experimentierfreudigkeit von seiner rein erzählerischen Komponente und führte die Form weit über das Ballett oder den traditionellen Tanz hinaus. In dieser kreativen Phase der achtziger Jahre florierten neue Ausdrucksformen, die die Stadt und ihre Künstler*innen bis weit über die Grenzen Montreals hinaus bekannt machten. Tourneen waren damals ja ganz normal und der Begriff „New Dance“ in aller Munde. Innerhalb weniger Jahre definierten diese ebenso begeisternden wie vielfältigen Ensembles das, was schon bald als „Montreal Dance“ bekannt werden sollte. Tanz und bildende Kunst standen in einem regen und fruchtbaren Austausch, Tänzer*innen arbeiteten in gemeinsamen Projekten mit Musiker*innen zusammen. Änderungen im politischen und sozialen Gefüge veränderten das Forum für Darbietungen dann aber nachhaltig. Die neuen Generationen setzten dann auch andere Themenschwerpunkte. Im Einklang mit diesem Wandel entstanden auch neue Foren, u.a. Studiengänge an den Universitäten der Stadt sowie Fakultäten, an denen man Tanz auf voruniversitärem Niveau (in so genannten „Cégeps“) studieren konnte.
Im Montreal von heute findet man viele professionelle Ensembles und zahllose unabhängige Künstler*innen. So entstanden Jobs und Engagement-Möglichkeiten, die ihrerseits weitere Tanz-Talente in die Stadt lockten. Manche der zuvor erwähnten älteren Künstler*innen sind nach wie vor aktiv und produktiv und mehrere Generationen von Tanzkünstler*innen machen derzeit Furore beim Publikum. Gleichzeitig aber warten noch viele andere auf ihre große Chance. Kreative Talente wie Dana Michel, Stéphane Gladyszewzki, Mélanie Demers, Claudia Chan Tak und Alexandra „Spicey“ Landé unterstützen sie und erschließen neue Definitionen von „Montreal Dance“. Außerhalb der bekannten Veranstaltungsorte und traditionellen Event-Formate betätigt man sich auch gern im Community Building. In diesem Zusammenhang ist das regelmäßig stattfindende Event Short and Sweet – kuratiert von Sasha Kleinplatz und Andrew Tay – zu erwähnen. Hier geben sich experimentierfreudige lokale Künstler*innen verschiedener Ausprägung in Mini-Bühnenauftritten die Klinke in die Hand. Viel von Gemeinschaft hält man auch bei DLD, dessen künstlerischer Leiter, der Tänzer und Choreograf Frédérick Gravel, ein Forum geschaffen hat, in dem Publikum und Künstler*innen interagieren und kooperieren. Andere Organisationen wie Danse à la Carte (DAC) bauen Brücken zwischen professionellen Tänzer*innen und Choreograf*innen für klassischen und zeitgenössischen Tanz sowie Urban Dance. Forschung, Kreativität, Weiterbildung und Produktions-Support werden hier ganz großgeschrieben. Als weiterer dynamischer Community Builder fungiert das ebenfalls in Montreal ansässige Regroupement québecois de la danse (RQD). Es unterstützt Tanzkünstler*innen aller Sparten bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Welt des Tanzes.
Vor einigen Jahrzehnten rühmten sich die Tanzschaffenden der Provinz Quebec noch einer gewissen Abgewandtheit von postmodernen Strömungen und einer formelleren Kodifizierung des modernen Tanzes. Diese Perspektive darf angesichts heutiger Realitäten mit allem gebührenden Respekt eher als leicht naiv bzw. affektiert bezeichnet werden. Kreativschaffende reisen heute bereitwillig zu Workshops, z.B. nach Wien, um dort mehr über Impulstanz zu erlernen, den – stets wichtigen – Ideenaustausch zu praktizieren und sich inspirieren zu lassen. Solche Veranstaltungen nähren in vielerlei Hinsicht den Wunsch nach Distanzierung von einzelnen kreativen Sichtweisen und alten Führungs- und Handlungsmustern.
Tanzkünstler*innen geben ihre ganz persönliche Weltsicht wohl seit jeher wieder. Die einzigartige Tanz-Sprache aller in Montreal beheimaten Choreograf*innen, die heuer auf dem Münchner DANCE Festival zu Gast sind – mit Catherine Gaudets The Pretty Things, Marie Chouinards « M » und Make Banana Cry von Andrew Tay und Stephen Thompson – belegt dies sehr überzeugend. Gaudet gestaltet in ihrem erst im vorigen Jahr entstandenen Werk meisterhaft und mit mathematischer Präzision geometrische Formen im Raum. Ihre sich wiederholenden Formationen und Muster verlangen dem Ensemble einiges ab. Obwohl mancher Zuschauer diese Genauigkeit vielleicht als brutal oder das Abzielen auf Erschöpfung gar als deplatziert wahrnehmen könnte, haben die Entwicklung von Charakter und das Ausloten von Nuancen in jeder Aufführung dieses Werkes etwas Gewinnendes. Gaudet führt ihr Ensemble zielgenau zu neuer Tiefe. Von Marie Chouinard geht nach wie vor ein prägender Einfluss aus. Die renommierte, vielseitig talentierte Tänzerin gilt als kompromisslos, geht aber auch stets mit dem erforderlichen Respekt zu Werke. Und verwandelt dabei nicht nur sich, sondern auch das Publikum. Thema ihrer groß angelegten Aufführungen ist immer wieder die Intelligenz des Körpers. Ein in Bewegung befindliches Zwerchfell, das Schöpfen von Atem, der durch einen mit Energie gefüllten Körper wandert, schafft bei Chouinard ein „Leuchten von innen heraus“. In « M » inszeniert sie die Aussöhnung der durch den Atem- und im weiteren Sinne auch Sprech-Rhythmus hervorgerufenen Bewegung durch wiederholte, wortlose Artikulationsreihen. Die beinah schwindelerregenden harmonischen Gesänge ihres Ensembles aus oben ohne auftretenden Tänzerinnen, die fuchsiafarbene Perücken und neonfarbige Hosen tragen, strahlen etwas aus, das sie einmal als „Puls der (Körper-)Zellen und Energiekreisläufe“ bezeichnet hat. Ein ebenso verstörendes wie ambitiöses Stück, das das Publikum auf eine ziemlich fantastische Reise ins Innere mitnimmt. Andrew Tay, hybrider Performer, Choreograf, Tanzkurator, DJ – und seit 2020 auch künstlerischer Leiter des Toronto Dance Theatre –, hat seinen experimentellen zeitgenössischen Tanzstil in Montreal entwickelt und spiegelt darin Einflüsse aus der Nightclub Culture und Fashionwelt wider. Er und der interdisziplinäre Tanzkünstler Stephen Thompson haben gemeinsam Make Banana Cry geschaffen, in dem der Begriff „Asianess“ in Frage gestellt, Stereotypen untersucht sowie Signifier und zum Fetisch erhobene Bilder geradezu seziert werden. Gleichzeitig wird das Publikum eingeladen, sich andere Formen des Verstehens zeitgenössischer Identitäten vorzustellen und sich auf in Veränderung begriffene Performance-Grenzen einzulassen. Kontext ist hier alles, und übereinander gelagerte Motive und Bewegungen schwirren, Querschlägern gleich, durch den Raum.
Die willkommene, rastlose Performance-Vitalität aus unserer schönen Stadt suggeriert die Notwendigkeit einer Regeneration des Performance-Begriffs. Eine solche ist in unserer unsicheren postpandemischen Welt ehrlich gesagt auch dringend nötig und kann heilend wirken. Diese Kunst hat Bestand, und die hier erlebbare stilistische Vielfalt gibt unmissverständlich zu verstehen, dass nichts sauber verpackt und etikettiert werden kann. In Montreal findet man ein Umfeld aus engagierter Kreativität voller Möglichkeiten, in dem der Austausch zwischen Tanzkünstler*innen und deren Publikum Veränderung hervorbringt.
Wo steht der Tanz in der Gesellschaft von heute? Er ist allgegenwärtig und in allem, was wir tun. Montreal beispielsweise ist ein Drehkreuz für technologiestarke Innovatoren, führend in der Entwicklung von so genannten Techno-Bodies in facettenreichen neuen Universen. Der Dialog ist profund, und für Künstler*innen verschiedener Ausprägung schafft er eine kreative Begeisterung aus dem komplexen Wechselspiel von Wahrnehmung, dem Austesten von Grenzen und der dringlichen Frage, ob Tanz – so wie wir ihn als künstlerische Form bisher kennen – überhaupt noch ausreicht. Solchermaßen zu genauerem Hinsehen gezwungen, erkennen wir: diese Wandlungen sind ebenso lebendig wie dringlich. Und nach meiner Ansicht bahnen sie vielen bedeutenden Tanzkünstler*innen aus Montreal auch den Weg für Sinnstiftendes in einer immer komplexer werdenden Welt.
Philip Szporer wohnt in Montreal und ist als Schriftsteller, Filmemacher und Dozent tätig.